Prof. Dr. Lars Rensmann
Montag, den 03.06.2024 – 19:00 Uhr – Raum folgt

Antisemitismus findet in der „Mitte der Gesellschaft“ ebenso Resonanzböden wie in Mobilisierungen der radikalen Rechten und in vom Selbstverständnis her „progressiven“ Kreisen. In den öffentlichen Reartikulationen von Verschwörungsmythen, Israelfeindschaft und Holocaustrelativierung als Tickets der Judenfeindschaft zeigt sich dabei einerseits die Beharrlichkeit des Antisemitismus als gefährliche „Unterströmung der Gesellschaft“ (Max Horkheimer). Neue Medien und neue Konfigurationen antisemitischer Desinformation im Zuge gesellschaftlichen Wandels füttern andererseits zugleich eine neue Dynamik von Judenfeindschaft.

Vor dem Hintergrund der neuerlichen Explosion antisemitischer Narrative, Tropen und Vorstellungswelten in Deutschland, Europa und den USA nach dem 7. Oktober 2023 widmet sich der Vortrag einem kritischen Verständnis von Antisemitismus und seiner empirischen und theoretischen Grundlagen. Dabei richtet der Vortrag einen besonderen Fokus auf den israelbezogenen Antisemitismus als ideologisches Deutungsmuster und als eine dominante Form modernisierter Judenfeindschaft in der Gegenwart. Jener nutzt die Geschehnisse im Nahen Osten als Folie, um immer noch weit verbreitete antijüdische Ressentiments und ein antisemitisches Weltbild auszudrücken, demzufolge die Zukunft, die Freiheit und das Überleben der Menschheit von der Befreiung von Juden abhängt. Trotz der Erkenntnisse der internationalen Antisemitismusforschung zum Phänomen des israelbezogenen Antisemitismus haben politische Manifeste und „Erklärungen“, die seine Existenz relativieren, in Abrede stellen oder ganz verleugnen, ebenso Konjunktur wie die—seit dem 7. Oktober noch deutlich verschärfte—Politisierung eines israelbezogenen Antisemitismus und dessen Übergang in offenen Judenhass. Dagegen versucht der Vortrag, auf sozialwissenschaftlicher Basis für das Wechselverhältnis von offenen, camouflierten und tolerierten Formen der Judenfeindschaft zu sensibilisieren, welche der Gewalt des Antisemitismus und der Glorifizierung antisemitischer Massengewalt vorgelagert sind, mit der wir derzeit vielerorts—nicht zuletzt auch an Hochschulen—konfrontiert sind. 

Prof. Dr. Lars Rensmann ist Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vergleichende Regierungslehre an der Universität Passau. Zuvor war er von 2016-2022 Professor für Europäische Politik und Gesellschaft an der Rijksuniversiteit Groningen (Niederlande), leitete als Gründungsdirektor das dortige Centre for the Study of Democratic Cultures and Politics und war Geschäftsführender Direktor des Fachbereichs Europäische Sprachen und Kulturen. Von 2012 bis 2015 war er Professor für Politikwissenschaft an der John Cabot University in Rom (Italien), wo er den Fachbereich Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen leitete, und von 2006-2011 war er DAAD Professor für Politikwissenschaft am Department of Political Science der University of Michigan. Rensmann lehrte und forschte zudem u.a. als Post-Doch an der Yale University, als Visiting Scholar der University of California at Berkeley, als ZEIT-Gastprofessor an der Haifa University (Israel), an der Universität Wien, der Universität Potsdam und der Freien Universität Berlin.  Zu seinen zahlreichen Forschungsschwerpunkten zählt die politikwissenschaftliche Antisemitismusforschung. Derzeit leitet er mit Heiko Beyer (HHU) die große „Dunkelfeldstudie zu Antisemitismus“ im Auftrag des Landes NRW. https://www.digital.uni-passau.de/beitraege/2022/interview-zur-antisemitismus-studie. Publikationen zum Thema u.a. Die Mobilisierung des Ressentiments: Zur Analyse des Antisemitismus in der AfD (Berlin: American Jewish Committee, 2021), “The Contemporary Globalization of Political Antisemitism: Three Political Spaces and the Global Mainstreaming of the ‘Jewish Question’ in the Twenty-First Century,” Journal of Contemporary Antisemitism 3, 1 (2020): 83-107, The Politics of Unreason: The Frankfurt School and the Origins of Modern Antisemitism (Albany, NY: State University of New York Press, 2017), Demokratie und Judenbild: Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005).